Warum junge Darmstädter:innen heute noch heiraten
Heiraten an ungewöhnlichen Orten: Seit wenigen Wochen bietet Darmstadt standesamtliche Trauungen in der Lilien-Loge im Merck-Stadion am Böllenfalltor an. Fußball-Romantik pur für Fans. Aber Hand aufs Herz: Brauchen wir die Ehe überhaupt noch?
Stadion als Standesamt
40 Gäste finden Platz, das Spielfeld liegt wie eine grün-weiße Bühne unter den Fenstern. Und wer möchte, kann im Bereich der Haupttribüne nahtlos weiterfeiern. Die Botschaft dahinter: Heiraten soll niederschwelliger und individueller werden. Doch die eigentliche Frage liegt tiefer: Welche Rolle spielt die Ehe überhaupt noch für junge Menschen in Darmstadt?
Später, seltener kirchlich – aber keineswegs abgeschafft
Zahlen des Hessischen Statistischen Landesamts zeigen: Das Durchschnittsalter bei der ersten Ehe ist in Darmstadt seit 2010 von gut 31 auf fast 34 Jahre gestiegen. Der Anteil kirchlicher Trauungen ist im selben Zeitraum von 53 auf 28 Prozent gefallen. Gleichzeitig nahm die Scheidungsquote in den ersten fünf Ehejahren leicht ab. Die Kombination deutet darauf hin, dass die Entscheidung wohlüberlegter und praktischer getroffen wird.
Zwischen 2014 und 2018 haben laut dem Darmstädter Dekanat jährlich rund 120 bis 150 junge Erwachsene im Alter von 18 bis 29 Jahren evangelisch geheiratet. Ab 2019 ging die Zahl deutlich zurück, besonders stark in den Corona-Jahren 2020 und 2021. Seitdem hat sie sich leicht erholt, bleibt aber deutlich unter dem Niveau vor der Pandemie.
Vier Gründe, warum „Ja“ noch zählt
Recht & Geld: Steuern, Erbe, Aufenthaltsrecht – die Ehe bleibt der eindeutigste Vertrag, wenn Vermögen oder Nachwuchs im Spiel sind.
Verbindlichkeit: Ein fixes Datum, ein gemeinsamer Name, vielleicht ein Ring. Ein echtes Commitment, statt „Mal sehen, wie’s läuft“.
Ritual ohne Religion: Obwohl der Gottesdienst oft wegfällt, bleibt die Symbolik erhalten. Egal ob freie Rednerin im Herrngarten, Segen-Light am 25. Mai bei „einfach heiraten“ oder die Loge mit Rasenblick – Hauptsache, es fühlt sich echt an. Pfarrerin Gudrun Olschewski (Pfungstadt) berichtet, dass viele Paare sich einen festlichen Rahmen wünschen. Manchmal mit liturgischen Elementen, manchmal auch nur, um sich „einmal wie eine Prinzessin“ zu fühlen.
Konventionen: Laut einer hessischen Jugendstudie von 2024 fühlen sich nur 18 % der 18- bis 30-Jährigen „von Familie oder Umfeld zum Heiraten gedrängt“. Trotzdem heiraten in Darmstadt noch immer rund 42 % der Paare vor dem ersten Kind. Es bleiben unterschwellige Erwartungen. Großeltern fragen, ob es „bald so weit“ ist, Eltern versprechen finanzielle Unterstützung für die Feier. Auch das kann die Entscheidung beschleunigen.
Tradition, Glaube – oder beides
Pfarrer Joachim Fuchs aus Modau wird im Jahr 2025 drei junge Paare zur kirchlichen Trauung begleiten. Alle wünschten sich bewusst ihren vertrauten Kirchenraum. Für sie sei die Hochzeit nicht nur ein romantisches Fest, sondern auch ein Hoffnungszeichen und Ausdruck ihrer christlichen Verwurzelung. Die evangelische Kirche beobachtet dabei unterschiedliche Tendenzen: Während einige den klassischen Kirchenraum bevorzugen, fragen andere gezielt nach alternativen Orten wie einer Burg oder dem eigenen Garten. Fuchs betont: „Wir gehen schon lange auf die Wünsche der Brautpaare ein.“ Auch Olschewski beobachtet diesen Wandel: Zwar ist der liturgische Rahmen nach wie vor gefragt, doch Ästhetik und das Fest als solches gewinnen zunehmend an Bedeutung.
Eine bewusste Option, kein gesellschaftliches Muss
Vielleicht sieht die Ehe in Darmstadt heute genau so aus: Persönlich, überlegt und trotzdem voller Gefühl. Eine Generation, die sich nicht mehr an Erwartungen bindet, findet eigene Wege, um Ja zueinander zu sagen. Manchmal aus steuerlichen Gründen, manchmal mit Stadionblick, manchmal mit einem traditionellen religiösen Segen. Heiraten ist kein Muss mehr, sondern eine bewusste Entscheidung. Oft nach Jahren des Zusammenlebens, manchmal mit Kindern oder anderen Konstellationen. Ob in der Kirche, im Vereinsheim oder am Spielfeldrand. Wer heute heiratet, tut das meist mit klarem Blick. Und vielleicht liegt genau darin die neue Stärke dieses alten Versprechens. Gerade in einer Stadt wie Darmstadt, in der Vielfalt mittlerweile zum Alltag gehört.
Titelbild: Emma Bauso