Auf den Blickwinkel kommt es an

Wie ein Darmstädter Hobbyfotograf die Stadt erkundet

Es ist ein sommerlicher Mai-Morgen. Darmstadts Straßen sind ruhig und die Luft noch leicht kühl von der Nacht. Sonnenstrahlen bahnen sich durch die frisch-grünen Baumkronen und werfen Schatten auf die Altbau-Fassaden des Johannesviertels. Von der Frankfurter Straße gehen viele Seitenstraßen ab. Blühende Vorgärten und verschnörkelte Balkone reihen sich aneinander. Vereinzelt trifft man auf spazierende Passant:innen oder Fahrradfahrende. Niemand eilt hier. Mitten auf dem Gehweg hat sich ein groß gewachsener Mann in voller Körperlänge ausgestreckt und fotografiert mit seinem Handy einen Löwenzahn, der in einem rechtwinkligen Bogen aus einer Mauer herauswächst.

„In einem Workshop wurde mir mal gesagt: Wer am Ende einer Foto-Tour keine schmutzigen Klamotten hat, hat sich nicht genug angestrengt“, sagt Peter Albert, während er sich den Straßenschmutz vom T-Shirt abklopft. Der Hobbyfotograf ist gelernter Diplom-Meteorologe und lebt seit 2019 in Darmstadt. Während des Corona-Lockdowns hat er sich ein Projekt ausgedacht: „Fotospaziergänge durch Darmstädter Bezirke“. Der Name sagt bereits aus, worum es geht. Darmstadt ist in neun Stadtteile mit insgesamt 37 Bezirken eingeteilt. Seit Dezember 2020 hat Peter es sich zur Aufgabe gemacht, diese Bezirke fotografisch zu erkunden – wann immer er Zeit dafür hatte. Dazu hat er sich eine genaue Karte auf Google Maps eingezeichnet, um unterwegs nachverfolgen zu können, wo welcher Bezirk endet.

Eine praktische Kamera

36 der 37 Bezirke ist der 54-Jährige in viereinhalb Jahren abgelaufen und hat eifrig fotografiert. Für diese Aktion kommt allerdings keine professionelle Kamera zum Einsatz, sondern sein Google Pixel-Handy. Das Handy als Kamera zu benutzen, habe laut Peter gute Gründe: „Weil es immer dabei ist, einfach in der Handhabung, und weil es sehr leicht ist, damit auch in versteckte Winkel zu kommen.“ Nicht gelungene oder unscharfe Bilder nehme er dafür in Kauf, es seien schließlich „Schnappschüsse“. In den Bezirken war Peter jeweils immer nur an einem Tag zum Fotografieren unterwegs, nicht an mehreren. Im Anschluss an jede Tour bearbeitet er die Bilder und postet sie auf seinem Instagram-Account.

Heute ist der letzte Bezirk für das Fotoprojekt dran. Das Johannesviertel, das vom Stadtzentrum ausgehend nordwestlich liegt, ist zugleich auch Peters Nachbarschaft. Die Foto-Tour startet um 9 Uhr morgens, denn: „In den Morgen- oder Abendstunden sind die Lichtverhältnisse schöner“, erklärt Peter, klettert auf eine Mauer und fotografiert den Schatten, den eine Straßenlaterne auf den Boden wirft.

Ein Auge fürs Detail

„Ich verändere nichts an der Szene, die ich vorfinde, sondern ich fotografiere das, was da ist. Details, Texturen, Linien und Perspektiven, die sonst unbeachtet bleiben, möchte ich wahrnehmen und sichtbar machen.“ Durch das Darmstadt-Projekt habe Peter seinen Fotografie-Stil erst richtig entwickelt – und natürlich auch Darmstadt besser kennengelernt, wie er erzählt.

In der Straße von „Timms Café“ kniet er sich vor einen alten Mercedes-Benz, um eine Nahaufnahme des Autoreifens zu machen. Der Besitzer des Autos ist auch zufällig da und startet mit ihm eine Konversation. Er freut sich, dass sein Auto wahrgenommen wird. Solche Momente seien laut Peter aber eher selten. Auf seinen Bildern sind keine Menschen zu sehen und auch sonst habe er nicht viele menschliche Begegnungen oder Geschichten erlebt. Peter ist bei seinen Bezirks-Touren lieber für sich und lässt die Stadt auf sich wirken. „Ich mag Kleinigkeiten, den Verfall und auch hässliche Dinge. Sobald ich etwas sehe, das ein bisschen aus dem normalen Blick heraussticht, mache ich spontan ein Foto.“

Entdeckungstour

Den künstlerischen Aspekt seiner Fotografie verstünden nicht alle Menschen. Während seiner Tour in Wixhausen-Ost hat Peter einmal ein altes Klingelschild fotografiert. „Eine aggressive Nachbarin wollte fast die Polizei rufen, weil sie dachte, ich spioniere da meinen nächsten Raubzug aus.“ Auch wenn Wixhausen wegen seines Namens für viele abschreckend klingen mag, so ist Peter begeistert, zumal dort laut des „Stadtlexikon Darmstadt“ das „älteste der erhaltenen mittelalterlichen Bauwerke im Stadtgebiet“ steht: Ein Kirchturm aus dem Jahre 1150.

Peters spontane Geheimtipps sind das Pallaswiesen- und Mornewegviertel, die Schepp-Allee mit windschiefen Bäumen im Verlegerviertel, die Lincoln-Wall mit ihrer Graffiti-Streetart oder die Wenckstraße im Martinsviertel, in der er am liebsten wohnen wollen würde. Bei seinem Fotoprojekt sei für Peter allerdings kein Viertel besonders herausgestochen. „Es gibt überall etwas zu entdecken“, sagt der 54-Jährige, der sich offene Innenhöfe anschaut, durch Weinflaschen hindurch fotografiert, Spiegelungen in Fenstern wahrnimmt oder eine Nahaufnahme von Farbschichten eines Graffitis aufnimmt.

„Die Schönheit Darmstadts liegt im Versteckten.“ Die verschiedenen architektonischen Bauwerke sind für Peter stellvertretend für bestimmte historische Abschnitte und deren Bauweisen, wie beispielsweise das Luisencenter aus den 1970er-Jahren, das Peters Meinung nach auf seine eigene Art schön sei. „Es liegt eine Schönheit in Sachen, die vordergründig hässlich sind”, denn gerade diese würden laut Peter oft eine Geschichte erzählen.

Ende und Anfang

Wie fühlt es sich an, so ein Langzeitprojekt gehen zu lassen? „Es ist nicht so, dass ich das Projekt beende und in ein Loch falle. Sondern jetzt kann ich etwas damit machen. Das ist ein gutes Gefühl, zu wissen, dass ich jetzt weitermachen kann“, sagt der Hobbyfotograf. Peter möchte zu einem „Galerie und Get-Together“ der „Kunstzentrale Darmstadt“ gehen und direkt mit ein paar Fotos seines Projektes werben. Eine Wanderausstellung, ein Memory, ein Buch – viele Ideen sprudeln nun in seinem Kopf.

Zurück in seinem Treppenhaus angekommen, fühlt sich Peter trotzdem etwas wehmütig, dass das viereinhalb Jahre alte Projekt nun zu Ende geht. In seiner Gästetoilette hängen statt eines Spiegels viele kleine quadratische Bilder seines „Fotospaziergänge durch Darmstädter Bezirke“-Projekts an der Wand. Darmstadt in kleinen Foto-Quadraten: „Erst in seiner Gesamtheit betrachtet wirken die Darmstadt-Aufnahmen so bunt und vielfältig“, sagt Peter und betrachtet dabei sein Werk.

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