„Beschäftigst du dich einmal mit dem Thema, dann siehst du die Menschen.“
Ohne sie zu kennen, bin ich mir sicher: Die Frau, die mir mit einem blauen Bollerwagen, neongelbem Halstuch und einem Lächeln entgegenkommt, ist Petra Bier. Sie kennt die Menschen in Darmstadt, die niemand kennt – Menschen ohne Wohnung, Obdachlose.
Wir treffen uns am Darmstädter Marktplatz. Petra lächelt und gibt mir die Faust. Mit der anderen Hand hält sie ihren Bollerwagen fest. Ich werfe einen kurzen Blick in den Wagen und entdecke eine weiße Styroporbox und einen Pulli mit der Aufschrift ihres gemeinnützigen Vereins Aus der Not. Seit fünf Jahren hilft Petra obdachlosen Menschen, 2023 hat sie dann den Verein gegründet, in dem sie mittlerweile von weiteren Mitgliedern unterstützt wird. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, Obdachlose, Bedürftige, Kinder aus sozial schwachen Familien sowie Menschen in Altersarmut zu unterstützen. Dabei macht Petra regelmäßig Versorgungstouren – so wie an diesem Freitagmittag.
Weiße Styroporbox
Nach einem kurzen Gespräch laufen wir vom Marktplatz Richtung Ludwigsplatz. Die 55-Jährige zieht ihren blauen Bollerwagen mit der weißen Styroporbox hinter sich her: „Gleich müssten wir Marco und Alana sehen. Die meisten haben ihre Standardplätze, wo ich sie dann immer treffe“, erzählt sie und läuft weiter. Gerade angekommen, begegnen wir Marco, der Petra direkt mit einem Lächeln begrüßt und sich sichtlich über sie freut. Ihr fällt sofort sein neuer Pulli auf, und die beiden quatschen ein bisschen, bis Petra die weiße Styroporbox öffnet und Marco mehrere Wasserflaschen und einen Eistee in die Hand gibt. Er legt sie auf seinen Schlafsack, der zusammengekauert an einer beigen Hausfassade liegt.

„Obdachlose dürfen in Darmstadt nicht auf Matratzen schlafen und auch keine Möbel wie beispielsweise Stühle nutzen. Wir bekommen oft Schlafsäcke gespendet, die ich dann an sie weitergebe“, erklärt Petra.
Eigentlich wollten wir nun weiter, um bei Alana vorbeizuschauen, aber sie ist nicht da. „Alana sitzt wirklich immer mit einem Schirm genau auf dieser Bank“, wundert sich Petra und zeigt auf zwei ältere Frauen, die sich gerade auf der Bank unterhalten. Wir bleiben kurz stehen. Petra zündet sich eine Zigarette an und schaut auf den Brunnen, der von mehreren dieser Bänke umringt ist. Es wirkt, als wäre sie in Gedanken versunken. Sie kann sich nicht erklären, wo Alana ist, kann in dem Moment aber auch nicht viel machen – also setzen wir die Tour fort.
Aufenthalt von Obdachlosen verhindern
Wir laufen durch die Darmstädter Innenstadt, vorbei an all den Menschen, die an Menschen wie Marco und Alana auch einfach nur vorbeilaufen. Petra erzählt, dass oft Sitzbänke wie die, auf der Alana immer mit ihrem Schirm sitzt, so gebaut werden, dass sich Obdachlose dort nicht hinlegen können. Oft werden im Nachhinein Armlehnen oder Metallstreben angebracht – wie an der Rheinstraße bei der Aral-Tankstelle. Solche Konstruktionen werden „defensive Architektur“ genannt. Sie wird aktiv genutzt, um den Aufenthalt von Obdachlosen zu verhindern.

„Beschäftigst du dich einmal mit dem Thema, dann siehst du die Menschen. Dann siehst du, wo sie sich aufhalten, wo sie liegen. Wenn du durch die Stadt läufst, siehst du vielleicht kaum Kinderwagen – wenn du schwanger bist, siehst du sie plötzlich überall.“
„Es gibt einen Unterschied zwischen aktiv und aggressiv betteln“
Am Luisenplatz angekommen, quetscht sich Petra mit ihrem Bollerwagen durch die Menschenmassen und zeigt auf die überdachten runden Sitzbänke, auf denen die Menschen auf die nächste Bahn warten. „Hier haben sich meine Leute immer getroffen und unterhalten, weil man sich gut gegenübersitzen kann. Seit ein paar Monaten dürfen sie das nicht mehr.“
Einer ihrer Leute ist Richie, der Petra schon von der anderen Straßenseite erkennt. Auch sein Schlafplatz liegt eng zusammengepfercht an einem Schaufenster. An einem Ende seines Schlafplatzes liegen ein paar Vorräte und Decken, am anderen Ende sitzt ein kleines Kuscheltier – ein Affe. Davor steht eine leere, orangefarbene Schüssel, in der Richie hofft, dass jemand ein bisschen Kleingeld hineinwirft. Würde er aktiv nach Geld fragen, wäre das verboten – denn in Darmstadt gilt seit Kurzem ein Bettelverbot.
Oberbürgermeister Hanno Benz verweist auf organisierte Bettelbanden, beispielsweise aus Rumänien. „Diese Banden betteln nicht nur, sondern bedrängen Passanten, teils aggressiv“, sagt der SPD-Politiker. „Das läuft am Rand der organisierten Kriminalität, weil diese Menschen die Einnahmen abgeben müssen.“ Petra versteht, dass Organisationen wie diese kontrolliert werden müssen. Durch ein generelles Bettelverbot fühlen sich andere auf der Straße Lebende aber vor den Kopf gestoßen. „Die meisten Obdachlosen betteln in den seltensten Fällen aktiv, sondern haben wie Richie ihre Schüssel vor sich stehen“, erklärt Petra.
Betroffen von dem Verbot sind auch Menschen in Altersarmut, die nach Geld fragen, weil ihre Rente zu gering ist. Sie sehe kein Problem darin, Menschen respektvoll nach Geld zu fragen. „Die Allermeisten laufen einfach weiter und bedrängen niemanden. Andere Städte haben oder hatten das Verbot auch – viele haben es wieder aufgehoben. Es gibt einen Unterschied zwischen aktiv und aggressiv betteln. Das muss berücksichtigt werden“, macht Petra deutlich.
Es bringt etwas
Nach der Tour stelle ich fest: So nah wie Petra ist niemand an obdachlosen Menschen dran. Sie kennt jeden – die Geschichten, die Schicksale. Sie redet nicht von „den Obdachlosen“, sie redet von Alana, Marco oder Richie. Sie kennt die Vergangenheit der Menschen, spricht mit deren Familien und hilft ihnen, soweit es ihr möglich ist, zu einem besseren Leben.
Die Selbstlosigkeit wurde Petra fast schon in die Wiege gelegt. Schon im Kindergarten nahm ihre Mutter sie mit, um Kindern in Not zu helfen – obwohl sie selbst sehr bescheiden in Darmstadt-Kranichstein aufwuchs.
Wegen einer seltenen Knochenkrankheit ist Petra schon früh arbeitsunfähig. CRPS verursacht starke Schmerzen und Entzündungen. Deshalb gab mir Petra zur Begrüßung auch nicht die Hand, sondern die Faust – die Krankheit beeinträchtigt ihre Beweglichkeit. Bis heute muss sie Schmerzmittel nehmen. Das hat sie aber nie davon abgehalten, anderen zu helfen. Anfangs unterstützte sie Kinder in Not – heute auch Menschen, die auf der Straße leben.
Um all das zu stemmen, bekommt Petra Unterstützung von vielen Seiten: ein Apotheker, der ihr Verbandszeug schenkt, ihre Schwester, die als Krankenpflegerin hilft, und eine Psychologin, die Petra dabei unterstützt, all das Erlebte zu verarbeiten. Immer wieder kommt es vor, dass Menschen, die sie kennt, sterben – vor allem in den kalten Monaten. „Mir geht das sehr nahe, wenn ich mit der Person an einem Tag noch rede und sie am nächsten Tag tot ist.“
In vielen Fällen aber hat Petra es geschafft, dass Menschen aus der Not herauskommen – ganz wie es der Name ihres Vereins verspricht. Wegen ihr haben viele nun eine Wohnung – in einer WG oder im betreuten Wohnen. Wegen ihr haben Menschen wieder einen Job gefunden. In einer Nacht hat Petra zwei Menschen vor dem Tod bewahrt. Sie wusste: Wenn die draußen bleiben, sind sie am nächsten Morgen tot. Sie nahm sie zu sich auf – beide überlebten die Nacht. In Frankfurt starb in derselben Nacht ein anderer Obdachloser.
All diese Geschichten helfen Petra, weiterzumachen. Weil sie weiß: Was sie tut, bringt etwas.