„In der Mannschaft geht es immer um das Kollektiv“

Sportvereine bieten für junge Menschen auf dem Dorf wichtige Orte der Freizeitgestaltung. Doch sie haben mit Herausforderungen wie sinkenden Mitgliederzahlen und dem demografischen Wandel zu kämpfen. Im Gespräch mit zwei Wissenschaftlern und einem jungen Fußballer. 

Elf Männer, Arme um die Schultern und die Köpfe zusammen. Ein Schrei, ein Pfiff. Es ist Sonntagnachmittag und zwischen Feldern und Wald trifft die Fußball-Herrenmannschaft der SKG Nieder-Beerbach im eigenen Ort auf die FTG Pfungstadt II. Am Spielfeldrand trocknet sich das Publikum die ersten Schweißperlen von der Stirn, während auf dem Platz schon ein Angriff aufs Tor gewagt wird. Daneben. Applaus gibt es trotzdem. Jede Woche heißt es anrücken zum Fußballspiel, erzählt Jannis Feuser. Seit mehreren Jahren spielt der 22-Jährige als Außenverteidiger bei der SKG. Aufgewachsen ist er hier, in Nieder-Beerbach. Mit etwa 1800 Einwohner:innen gehört der Ort zur Gemeinde Mühltal. Bis nach Darmstadt dauert es gute 20 Minuten – mit dem Auto versteht sich. „Mit öffentlichen Verkehrsmitteln kommt da keiner, das kann ich versichern”, sagt Janis und lacht. 

Foto: Louisa Albert/ Janis spielt schon seit vielen Jahren für die SKG Nieder-Beerbach.

Er wohnt mittlerweile in Darmstadt. Dass er sich trotzdem jede Woche für Training und Spiele auf den Weg in sein Heimatdorf macht, ist nicht selbstverständlich. Viele Vereine in ländlichen Regionen leiden unter dem demografischen Wandel, der sich durch die Gesellschaft zieht. Bessere Infrastrukturen, Studium oder Ausbildung locken die jungen Leute in die Städte. Was bleibt, sind Lücken; nicht nur auf dem ländlichen Arbeitsmarkt, sondern auch in Kultur- und Sportvereinen.

Was bleibt, wenn alle gehen?

Für die Kinder und Jugendlichen, die nachkommen, ist das ein Problem. Gerade die Sportvereine stellen oft die einzige Freizeitmöglichkeit neben dem schulischen Alltag dar. Sie bieten Orte der Bewegung und des Wettkampfs, machen Gemeinschaft erlebbar und tragen so auch zur Verwurzelung im Heimatort bei. „Wenn diese sozialen Strukturen in den ländlichen Regionen dünner werden, weil zum Beispiel die Siedlungen nur noch von Pendlern bewohnt werden oder die Gemeinde schrumpft, dann kann Identifikation nicht mehr gelebt werden und es folgt eine Art Entwurzelung”, sagt Lutz Thieme im Interview. Der Sportwissenschaftler arbeitet als Professor an der Hochschule Koblenz und forscht schon seit vielen Jahren zu Sportvereinen. 

Um diese am Leben zu erhalten, brauche es also unter anderem junge Menschen, die nach ihrer Schulzeit in ihren Dörfern bleiben oder eben nach ihrer Ausbildung wieder zurückkommen. „Da spielen dann eben noch vorhandene Strukturen vor Ort eine große Rolle”, betont Thieme. Auch wenn Freund:innen noch im Heimatdorf wohnen, sei die Wahrscheinlichkeit größer, dass die jungen Menschen aus den Städten wieder zurückziehen. Von daher sei dann der Sportverein im Dorf viel wichtiger als der 20. Sportverein in einer Kleinstadt oder der 100. Sportverein in einer größeren Stadt. „Eben weil es die letzten ihrer Art sind. Das ist wie eine rote Liste von bedrohten Arten. Biodiversität könnte man auch sagen – Sozialdiversität.”

Fotos: Louisa Albert/ Kurz nach dem Ortseingang führt ein Straßenschild zum Vereinsgelände.

Auch für Janis spielt das soziale Netzwerk in seinem Heimatdorf eine große Rolle. „Ich hab mich damals für den Verein entschieden, weil meine Freunde von früher dort gespielt haben.” Ein Trainer sei damals auf ihn und andere junge Leute aus dem Dorf zugekommen. Der Verein hatte Nachwuchsmangel. Janis und fast alle anderen stimmten zu, in den Heimatverein zu wechseln. “Die meisten spielen immer noch da. Das sind Leute, die haben vorher teilweise vier Ligen drüber gespielt. Sie sind sozusagen für den Verein wieder abgestiegen”, erzählt Janis und ergänzt stolz: „Letztes Jahr haben wir den Aufstieg geschafft.” Dieser Zusammenhalt sei es, was Janis bei seinem Verein halte. Ich könnte es mir einfacher machen und sagen, ich gehe jetzt ins Gym und muss mich nicht an Trainingszeiten halten. Aber dieses Gefühl, Teil einer Mannschaft zu sein und gebraucht zu werden, das ist schon cool.” 

Sportvereine müssen mit der Zeit gehen

Zugehörigkeit – ist das die magische Zutat für den Erfolg der Vereine? Freiwilliges Engagement sei immer intrinsisch motiviert, erklärt Lutz Thieme. „Menschen machen Ehrenamt, weil sie darin Erfüllung und Sinn sehen. Das ist bei jungen Menschen nicht wesentlich anders als bei älteren.” Einen Unterschied gebe es aber: „Die Bereitschaft junger Menschen, sich langfristig an Ämter zu binden, ist gesunken. Da müssen Sportvereine aufpassen, dass sie entsprechende Angebote an junge Menschen machen, sich auch außerhalb von Wahlämtern engagieren zu können.” 

Auch der Schweizer Sportsoziologe Siegfried Nagel pocht auf die Notwendigkeit, sich für neue Herangehensweisen zu öffnen. Gerade wenn es darum gehe, neue Mitglieder für Vereine zu gewinnen. „Zentral ist eine Offenheit, eine Willkommenskultur”, betont er im Interview. Dass sich diese lohnt, kann auch Janis bestätigen, denn: „Wenn man nicht mit einem Vereinssport aufgewachsen ist, kann sich das schnell fremd anfühlen. Sich dann neu in eine Mannschaft hineinzufinden, ist super schwierig, vor allem wenn du niemanden kennst.” 

Foto: Louisa Albert/ Nach dem Spiel wird noch gequatscht, gegessen und angestoßen.

Um diesen Einstieg zu erleichtern, könne auch die Zeit vor und nach dem Training genutzt werden, so Nagel. „Eine Willkommenskultur ist möglich und gegeben, wenn es über die 90 Minuten Sporteinheit hinaus auch noch andere Aktivitäten im Verein gibt. Gesellige Treffen, bei denen man sich austauschen kann, verbunden mit guten Getränken und leckerem Essen.” Generell sei es dabei wichtig, sich von festgefahrenen Vorstellungen zu lösen und nicht immer eine vollständige Anpassung zu fordern, betont der Sportsoziologe. Gleichzeitig könnten die bereits vorhandenen Strukturen in den Vereinen aber auch positiv genutzt werden. Sie könnten Routinen und Struktur im Alltag fördern und auch beim Sprachenlernen unterstützen. „Menschen, die nicht in dem Land groß geworden sind, bestätigen, dass gerade der Sportverein durch die regelmäßigen sozialen Kontakte auch eine Chance bietet, die Alltagssprache zu erwerben”, erzählt Nagel. „So kann ein Geben und Nehmen stattfinden.” 

Das Kollektiv steht an erster Stelle

Ein Geben und Nehmen über gesellschaftliche Grenzen hinweg bieten Sportvereine alleine schon durch die Zusammensetzung der Mannschaften. „Die Jüngsten bei uns sind 18, der Älteste ist 51 Jahre alt”, erzählt Janis. „Außerdem hast du in der Mannschaft Leute, die haben studiert, andere sind noch in der Ausbildung. Du hast also ganz viele verschiedene Charaktere. Sowas gibt es sonst nur selten im Alltag.” Natürlich sei das Vereinsleben nicht immer frei von Uneinigkeiten oder Grüppchenbildung, beim Spiel selbst würden diese aber zweitrangig. „Auf dem Platz spielst du den Pass zu demjenigen, der am nächsten steht und am besten positioniert ist. Da ist es egal, ob das dein bester Freund ist oder jemand, mit dem du dich vielleicht nicht so gut verstehst.” Janis erzählt, dieses gemeinschaftliche Denken habe ihn stark geprägt. „In der Schule schreibst du Arbeiten und Tests. Da geht es darum, wie gut du performst. In der Mannschaft ist das anders, da geht es immer um das Kollektiv.” 

Foto: Louisa Albert/ Der Gemeinschaftssinn beim Fußball hat Janis stark geprägt.

Dieses Kollektiv zu erhalten, das ist die Herausforderung der heutigen Zeit. Auch die Politik kann hier eingreifen und unterstützen, zum Beispiel mit gezielten Fördermaßnahmen. Doch wie viel bringt diese Unterstützung von oben? „Damit politische Fördermaßnahmen wirksam werden können, müssen sie anschlussfähig sein”, sagt Sportsoziologe Nagel und nennt als Beispiel die Integrationsförderung. „Gerade in ländlichen Regionen beobachte ich, dass Sportvereine in erster Linie Einrichtungen sind, in denen sich Menschen zusammentun, um regelmäßig Sport zu treiben. Integration ist dabei allenfalls ein Nebeneffekt oder Nebenziel.” Als Erkenntnis daraus schließt Nagel, dass es wichtig sei, sich in die Logik der Vereine hineinzuversetzen. „Solche Programme sollten gemeinsam mit den Vereinen entwickelt werden. Oder eben so offen gestaltet sein, dass ein Verein sie ein Stück weit auch für sich selbst definieren kann und nicht mit Unmengen an administrativen Hürden und Vorgaben kämpfen muss.” 

Vertrauen in die Zukunft

Am Ende können dann im besten Fall beide Parteien profitieren. Denn genau wie die Sportvereine auf politische Förderungen angewiesen sind, braucht die Politik diese Lernorte für Teilhabe und Engagement. Und auch wenn durch Stichworte wie “Corona” oder “Vereinssterben” ein oft negatives Bild der Vereinskultur gezeichnet wird – eine Zukunft haben diese Orte sicherlich, davon ist Sportwissenschaftler Lutz Thieme überzeugt. „Ich habe großes Vertrauen in die Sportvereine, auch in den ländlichen Regionen. Sportvereine haben schon Weltkriege und Diktaturen überlebt und sich immer wieder gesellschaftlichen Veränderungen angepasst. Sie sind gut darin, Menschen zu motivieren, Energie, Zeit und Kraft einzubringen und so den Verein auch immer wieder neu zu erfinden.” 

Fotos: Louisa Albert/ Fußballspielen im Grünen. Der Verein grenzt direkt an Wald und Feld.

Janis Verein ist dafür ein gutes Beispiel. Dass er und seine Mitspieler extra aus anderen Vereinen nach Nieder-Beerbach zurückgewechselt sind, um die SKG am Leben zu erhalten, steht entgegen dem Bild der individualistischen Generation Z. Fragt man Janis, was es braucht, um junge Menschen für den Vereinssport zu begeistern, ist seine Antwort klar: „Ich glaube, Leute müssen einmal zum Training kommen und sich das anschauen. Wenn du Spaß daran hast, regelmäßig ein paar Leute zu sehen, auch mal Jokes zu bringen und ein bisschen Wettbewerbsgefühl zu erleben, dann bist du hier richtig.”

Titelbild: Louisa Albert

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