,,Musik ist Sprache” – Warum wir echte Begegnungen brauchen statt perfekte Auftritte
Bei der Jam Session im Staatstheater Darmstadt treffen sich regelmäßig Musiker:innen aller Stilrichtungen und Erfahrungsstufen, um gemeinsam zu experimentieren und zu improvisieren.
Das Format der Jam Sessions war mir zuvor vor allem durch Reisen im Ausland bekannt. Erst als ich das Programm des Staatstheaters durchstöbere, stoße ich auf die Veranstaltung. Warum habe ich davon nie etwas gehört? Mir ist klar, das möchte ich mir genauer anschauen.
„Als Musik noch richtig groß war“ – Dieser Song des Musikers und Podcasters Olli Schulz beschreibt vergangene Zeiten der Musikkultur. Rock ‘n‘ Roll, lange Konzertabende, das Leben und die Musik feiern – all dies vermisst der 51-jährige Singer-Songwriter. Und mir geht es ähnlich. Aufgewachsen in einer musikalischen Familie hörte ich seit Kindertagen Anekdoten über Jugend, Musik und Gemeinschaft. Ich wusste, das möchte ich später auch – mit Freund:innen meine Leidenschaft, die Musik, teilen. Doch die Suche nach einer potenziellen Band stellte sich als Herausforderung dar. Mein Eindruck: Junge Menschen haben kein Interesse daran, zusammen Musik zu machen. Oder liegt es vielleicht gar nicht an mangelnder Motivation?
Das Ende der Band-Ära
Eine Datenanalyse des Onlinemagazins Skoove mit dem Datenstudio DataPulse zeigt, dass Bands in den 1990er-Jahren rund 50 Prozent der Platzierungen in den deutschen Charts ausmachten. Doch ihr Einfluss nimmt stetig ab: 2010 lag ihr Anteil in Deutschland noch bei 32 Prozent. 2024 schaffte es keine einzige Gruppe in die Top 20 der Jahrescharts. In den USA fiel im selben Jahr keine Band mehr unter die Top 100 der Billboard-Jahrescharts. Die deutsche Musikszene wird heute von Solokünstler:innen wie Shirin David und Apache 207 dominiert. Musikalische Visionen entstehen heute oft kosteneffizient im Home-Studio mit Laptop und Software. In einem Artikel von SWR Kultur sagt Derek von Krogh, Musikproduzent und Künstlerischer Direktor der Popakademie in Mannheim, das ehemals lukrative Geschäftsmodell des Tonträgerverkaufs falle durch Streaming weg. Zudem würden heutzutage TikTok-Trends und Algorithmen bestimmen, was ein Hit wird. Laut dem Musikproduzenten erreichen Solo-Artists auf Social Media ihre Fans direkt. Für Bands sei es dagegen schwieriger, im Hochformat von Instagram und Co. herauszustechen.
Eine versteckte Bühne
Die Jam Session im Staatstheater bildet einen Gegenpol zu dieser Entwicklung. In der „Bar der Kammerspiele“ wird sie an einem Montag im Monat von Ali Napoé, Musiker, Schauspieler und Theaterpädagoge, veranstaltet. Für Nicht-Darmstädter:innen wie mich ist es jedoch gar nicht so einfach, die Bar zu finden. Als ich das Staatstheater bereits zum dritten Mal auf der Suche nach dem Eingang umkreise, treffe ich endlich auf einen jungen Mann mit Gitarrenkoffer. Er führt mich zunächst zu einer Tür im Parkhaus des Theaters. Wir gehen durch einen dunklen Gang, steigen eine kleine Treppe hinauf und stehen plötzlich in der Bar.

Sofort fällt mir Ali mit seinem bunten Hemd auf, der auf einer rot beleuchteten Bühne im Aufbau der Instrumente versunken ist. Als er mich entdeckt, begrüßt er mich herzlich.
Vom Karaoke-Abend zur Jam Session
Plötzlich betritt eine große und vor allem lebhafte Gruppe spanischer Student:innen die Bar. Die Stimmung wird ausgelassener. Die Zuschauerreihen füllen sich und Ali läutet den Abend mit einer kurzen Moderation ein. Langsam trauen sich die Ersten hinter die Mikrofone oder zu den Instrumenten. Die Zusammensetzung der Musizierenden passiert spontan. Die Darbietungen auf der Bühne erinnern mich eher an einen feucht-fröhlichen Karaoke-Abend. Zugegeben, ich bin etwas enttäuscht. Denn ich hatte eine kreative und musikalische Session erwartet.
Internationale Stimmen
Doch schon bald ändert sich die Konstellation und die Performances werden vielseitiger. Neben Klassikern wie „Stand By Me“ werden Songs in verschiedenen Sprachen präsentiert – darunter auf Polnisch und Indisch. „Ihr habt mich ermutigt, ein Lied in meiner Muttersprache zu singen. Das vermisse ich sehr“, sagt eine junge Frau zu zwei polnischen Studentinnen.
Nach ihrer Darbietung spreche ich sie an. Auf meine Frage, was sie heute hierher geführt habe, antwortet Nupur, sie sei zwar Ärztin, doch habe in Indien klassischen Gesang gelernt. „Vor allem mein Opa hat mich geprägt. Ich mag das Staatstheater und die Jam Session ist eine tolle Möglichkeit für mich, wieder vor Menschen aufzutreten.“ Doch die Veranstaltung werde nicht ausreichend beworben, entgegnet sie. Das ist mir auch schon aufgefallen.
Nachdem ein internationales „Let it go“ aus Die Eiskönigin samt Publikum geträllert wird, ändert sich die Dynamik des Abends. Zunächst tritt überraschend eine Impro-Theatergruppe samt musikalischer Gitarrenbegleitung auf. Schließlich füllt sich die Bar mit weiteren Musiker:innen. Anstatt einzelne Songs zu covern entwickeln sich die Performances zu freien Jams. Texte, Akkorde und Harmonien entstehen wie von allein aus der Dynamik der Künstler:innen. Alle Genres haben einen Platz auf der Bühne, teilweise sogar zeitgleich. Ich merke, dass die Menschen auf der Bühne loslassen, aufhören zu denken und sich von der Musik tragen lassen.
Die Jam im Downtown 20
Ich komme mit Kev und Flo ins Gespräch. Kev ist der Besitzer des Downtown 20 in der Darmstädter Innenstadt. Zusammen mit Flo organisiert er jeden Montagabend eine Jam in seiner Bar. „Nach der Session hier, ziehen wir alle noch weiter ins Downtown“, erklärt Flo. Kev ist für den musikalischen Part zuständig, Flo ist ebenfalls Musiker, knüpft aber vor allem die Kontakte. Was früher über Plakate oder Flyer lief, findet heute in Telegram- oder WhatsApp-Gruppen statt.
(Für Interessierte: Telegram-Gruppe – Music in DA, WhatsApp-Gruppe – Music Maniacs)

,,Musik ist ein Anker in guten und in schlechten Zeiten”
Beide eint die Leidenschaft und der Spaß an der Musik. Jam Sessions unterscheiden sich in ihrem musikalischen Anspruch. Doch ihnen ist es wichtig, einen inklusiven Ort zu schaffen, an dem jede:r willkommen ist, egal ob Anfänger:in oder professionelle:r Musiker:in. „Musik ist ein Anker in guten und in schlechten Zeiten. Mir geht das Herz auf, wenn ich sehe, wie Menschen von ihr berührt sind“, erzählt Flo. „Außerdem sind Fehler spannend.“ Er gibt zu: „Ich will es ungern sagen, aber Instrumentalist:innen sind austauschbarer als Solokünstler:innen, bzw. Sänger:innen. Die Stimme ist etwas vollkommen Individuelles. So wie ich wird niemand singen können.“
Doch ist die menschliche Stimme wirklich so einzigartig? Künstliche Intelligenz ist heute schon in der Lage, einfache Moderationen, beispielsweise im Radio, zu übernehmen. KI-Songs sind weit verbreitet. In einer Studie der Landesanstalt für Medien NRW erkannten nur 29 % der Studienteilnehmenden eine durch KI erzeugte Radio-Moderation. 23 % der Probanden hielten den echten Moderator für einen Avatar. Diese Entwicklungen mögen polarisieren und auch Ängste schüren, doch sie sind Realität.
Raum, ohne Erwartungen
Als sich der Abend dem Ende neigt, gelingt es mir, Ali für ein Gespräch zu erwischen. Als Moderator und Organisator ist er den ganzen Abend auf und neben der Bühne beschäftigt. Er hat die Session im Mai 2024 ins Leben gerufen. Zuvor organisierte er im Frankfurter Bahnhofsviertel ein ähnliches Format. „Die Menschen sollen sich hier musikalisch kennenlernen. Ich möchte einen Raum für Connection schaffen“, erklärt er mir. „Raus aus dem Konzert-Modus!“ Für Ali ist Musik wie Sprache. Man müsse sie nicht perfekt beherrschen, um sich verständigen zu können. Die Jam Session sei ein Raum ohne Erwartungen. Dies bezieht der Schauspieler auch auf das Leben im Allgemeinen. „Du kannst dir Gedanken machen und Pläne schmieden, doch habe niemals Erwartungen.“
Da hat er einen Punkt, denke ich. Zunächst hatte ich Zweifel am musikalischen Tiefgang und Niveau der Veranstaltung, hielt sie sogar für einen reinen Karaoke-Abend. Doch dann entwickelte sie sich zu einer lebendigen und mitreißenden Improvisation mit spontaner, kreativer Energie.
Echte Begegnungen
Die Jam Sessions im Staatstheater sind nicht nur ein musikalisches, sondern auch ein soziales Ereignis. Hier zählen keine Klicks auf Instagram oder Chartplatzierungen, sondern einzig und allein die Leidenschaft für die Musik und der gemeinsame Moment. In einer Zeit des Individualismus sind solche Veranstaltungen wichtiger denn je. Sie fördern kulturelle Vielfalt, schaffen Räume für musikalische Vernetzung und erinnern uns daran, dass echte Begegnung und gemeinsames Erleben nicht zu ersetzen sind.
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