Vollzeit? Aber wer passt auf?
Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) hat mehr Vollzeitarbeit von Müttern gefordert. Damit löste sie eine Debatte aus, die bis in Darmstadts Kitas reicht. Was in der Politik wie eine sinnvolle Maßnahme klingt, kollidiert in der Praxis mit knappen Betreuungsplätzen, überlasteten Fachkräften und dem ständigen Spagat vieler Eltern zwischen Beruf und Familie.
Ein politischer Appell mit Lücken
„Mehr Mütter sollten in Vollzeit arbeiten.” Was wie eine wirtschaftspolitische Maßnahme klingt, sollte laut Bärbel Bas helfen, das Rentensystem zu stabilisieren. Doch was aus Sicht der Politik als logischer Schritt erscheint, ist für viele Familien in Darmstadt organisatorisch kaum machbar. Wer mehr arbeitet, braucht auch verlässliche Betreuung – und genau daran mangelt es.
Pia Tischer ist Erzieherin in einer Darmstädter Einrichtung. Sie kennt die Sorgen vieler Eltern, die ihre Kinder früh abgeben müssen. „Wenn Kinder mit sechs Monaten in die Krippe kommen, spüren wir als Fachkräfte eine enorme Verantwortung. Die Bindung zur Mutter oder zum Vater ist oft noch nicht gefestigt“, erzählt sie. „Manche Kinder erleben uns Erzieherinnen dann als primäre Bezugsperson. Das kann fatale Auswirkungen auf ihre emotionale Entwicklung haben, wenn wir nach zwei Jahren plötzlich weg sind.“
Fachkräftemangel bringt Eltern an Grenzen
Hessenweit fehlen laut GEW aktuell rund 16.000 Fachkräfte. Auch in Darmstadt ist die Lücke spürbar. Zwar plant die Stadt bis 2026 über 400 neue Plätze, doch schon jetzt sind viele Gruppen überbelegt, Öffnungszeiten zu kurz und Eltern am Limit. „Wenn wir um 16 Uhr schließen, wie soll eine Mutter dann Vollzeit arbeiten?“, fragt Tischer. Wer keine Großeltern in der Nähe hat oder sich private Hilfe leisten kann, steht oft allein da. Um eine echte Ganztagsbetreuung bieten zu können, reichen leider keine acht Stunden am Stück. Nötig wären Puffer für Pendelzeiten, Elterngespräche und Notfälle.
Der Spagat zwischen Anspruch und Alltag
Tischer beobachtet zudem die psychische Belastung vieler Mütter: „Sie haben ein schlechtes Gewissen, weil sie ihre Kinder früh abgeben, und zugleich das Gefühl, beruflich mithalten zu müssen.“ Daniela P., Mutter zweier Kinder aus Pfungstadt, bringt es auf den Punkt: „Bas’ Appell klingt nach wirtschaftlicher Logik. Aber nicht nach Leben.“
Unsichtbare Arbeit
Ein oft übersehener Aspekt: Die unbezahlte Sorgearbeit. Laut Deutschem Jugendinstitut tragen in über 70 Prozent der Familien die Mütter die Hauptverantwortung für Alltagsorganisation, unabhängig vom Umfang ihrer Arbeitsstunden. Kochen, Putzen, Planen, emotionale Begleitung sind Tätigkeiten, die gesellschaftlich wenig Anerkennung erfahren, aber unerlässlich sind.
Der Begriff „Mental Load“ beschreibt diese ständige, unsichtbare To-do-Liste. Laut Statistischem Bundesamt werden jährlich über 94 Milliarden Stunden unbezahlter Sorgearbeit in Deutschland geleistet. Diese ist die Voraussetzung dafür, dass überhaupt Arbeitskraft im Erwerbsmarkt angeboten werden kann. Erst wenn Kinder betreut, Angehörige versorgt und Haushalte organisiert sind, wird Lohnarbeit möglich.
Kindererziehung muss nicht „mitlaufen“
Laut Tischer bekommen Menschen keine Kinder, um sie möglichst früh fremdbetreuen zu lassen und selbst nahtlos ins Berufsleben zurückzukehren. Kinder zu bekommen, sei nicht nur eine persönliche Entscheidung, sondern eine Investition in eine gemeinsame Zukunft. Wer neue Generationen großzieht, leistet einen Beitrag, von dem die Gesellschaft langfristig profitiert. Das bleibt in der politischen Debatte oft ungesagt.
Die Soziologin Jutta Allmendinger schreibt in ihrem Buch „Es geht nur gemeinsam!“: „Kindererziehung ist Arbeit. Sie wird nur nicht bezahlt.“ Dennoch wird von Müttern erwartet, sie sollten zusätzlich auch noch einer Vollzeit-Erwerbsarbeit nachgehen, als wäre Care-Arbeit keine produktive Tätigkeit.
Fazit: Es braucht mehr als Appelle
Solange Sorgearbeit nicht strukturell mitgedacht wird, bleiben politische Forderungen wie die von Bärbel Bas unrealistisch. Die Erwartung, Mütter sollten zusätzlich zur familiären Verantwortung in Vollzeit erwerbstätig sein, ignoriert die bereits geleistete Arbeit, die eben außerhalb des Markts stattfindet.
Um echte Wahlfreiheit zu schaffen, braucht es mehr als Appelle. Es braucht flächendeckende, qualitativ hochwertige Ganztagsbetreuung, deutlich mehr Fachkräfte, finanzielle Anerkennung von Care-Arbeit und eine gesellschaftliche Neubewertung von Erziehungsleistung als gleichwertig zur Erwerbsarbeit.
Titelbild: Drazen Zigic