Ein Blick hinter die Kulissen
Wenn sich der Vorhang hebt und das Licht die Bühne erhellt, tauchen Zuschauer in die Welt des Theaters ein. Doch was verbirgt sich eigentlich hinter den prächtigen Kulissen? Eine exklusive Tour durch das Staatstheater Darmstadt enthüllt die Komplexität und Hingabe, die jede Aufführung erst möglich machen.
Die Tour startet am Künstlereingang, wo bereits ein Dutzend Besucher:innen, besonders ältere Menschen und Familien, gespannt warten. Die Luft ist erfüllt von leisen Konversationen über Urlaube, Theaterbesuche und das Wetter, bevor die Tickets an der Pforte gescannt werden. Angeführt wird die Tour von Kerstin Libel, einer Mitarbeiterin von Darmstadt Marketing. In ihrem lila Kleid fällt sie sofort ins Auge, wirkt sympathisch, bestimmt und voller Wissen. Sie führt die Gruppe durch einen ersten langen Gang. Rechts liegt die Theaterkantine, links hängen große Banner vom aktuellen Ensemble und den Hauptdarstellenden, die erste Blicke in die Welt des Schauspiels geben.
Durch einen steilen Abstieg am Bühneneingang gelangen die Besucher:innen in eine Halle mit braunen Wänden, die von Karikaturen zu Theater- und Kunstthemen geschmückt sind. Drei Bildschirme zeigen eine Auswahl aller bisher im Staatstheater aufgeführten Stücke. Auf der rechten Seite der Halle befinden sich die Kammerspiele und eine Bar, Räumlichkeiten, in denen kleinere Stücke für 60 bis 80 Personen aufgeführt werden. Die Kammerspiele sind so konzipiert, dass das Publikum sehr nah am Geschehen sitzt, fast wie in einer Turnhalle, und sogar den Aufbau und Abbau der Bühnenbilder live miterleben kann. Auf der linken Seite der Halle befindet sich ein Lager mit Equipment, wo Mitarbeitende ihrer Arbeit nachgehen.
Von Singspiel bis Nachkriegs-Neubau
Die Geschichte des Theaters in Darmstadt reicht weit zurück ins 17. Jahrhundert. Sie begann als Veranstaltung eines Landgrafen aus Darmstadt, zunächst in Form von Singspielen. Später entwickelte es sich zu einem Adelstheater, bei dem alles auf Lateinisch aufgeführt wurde. Um an diesen Aufführungen teilnehmen zu können, war es für alle Adeligen obligatorisch, ein Instrument zu lernen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Staatstheater bombardiert und vollständig zerstört. Der Besuch des Theaters galt nach dem Wiederaufbau Darmstadts zunächst als Luxus. Doch mit der technischen Weiterentwicklung der Stadt reifte die Idee zum Bau eines neuen Theaters.
Pinnwände, Proberäume und Wollnudeln
Die Tour führt weiter in eine zweite, hellere Halle mit weißen Wänden. Eine blaue Pinnwand bietet hier wichtige Informationen wie „Mitmachen + Vermittlung“, „KBB“, „Intendanz Informationen“ und „Verwaltung“. Zudem finden sich hier Informationen über Gewerkschaften und Schlüsselpersonen wie die Gleichstellungsbeauftragten. Ein dritter Raum überrascht mit einer silbernen Pinnwand, auf der Meinungen und Rezensionen aus dem Internet über verschiedene Theateraufführungen des Darmstädter Theaters angeheftet sind. Ein schmaler Gang voller Türen führt vorbei an Proberäumen. Durch die Wände dringt der Klang eines Instruments, das darauf hindeutet, dass irgendwo gerade geprobt wird.
Im zweiten Stockwerk offenbart sich ein entscheidender Bereich: das Lager für Requisiten. Die Tourführerin betont die immense Bedeutung der Personen, die mit Requisiten arbeiten. Requisiten werden nicht nur gelagert, sondern auch selbst hergestellt, was ein hohes Maß an Kreativität und Einfallsreichtum erfordert. Beeindruckende Beispiele für die Täuschungskunst der Requisitenmacher:innen werden präsentiert: Nudeln in einer Box bestehen aus Wollfäden, Bier wird aus Kamillentee und Spülmittel für den Schaumeffekt hergestellt, Wein ist Traubensaft, und Wodka ist schlicht Wasser – Theatermagie im Detail. „Wer Requisiten klaut, frisst auch kleine Kinder“, zitiert Libel augenzwinkernd. Ein internes Sprichwort, das die Bedeutung dieses Arbeitsbereichs betont.
Die große Bühne und ihre unsichtbaren Helfer:innen
Anschließend betreten die Besucher:innen die imposante und komplett schwarze Bühne. Während des Besuchs finden gerade Bauarbeiten statt, was die ständige Transformation und Anpassung des Bühnenraums verdeutlicht. Die hohe Decke ermöglicht es, ganze Bühnenbilder von oben herabzufahren. Ein eiserner Vorhang aus Metall ist ebenfalls vorhanden. Für den Fall, dass Schauspieler:innen ihren Text vergessen, steht jemand hinter dem Vorhang bereit, um ihnen den Text zuzuflüstern. Mehrere Bildschirme zeigen das Dirigat, um den Darstellenden Orientierung zu bieten. Die Regie sitzt während der Vorstellung in einem separaten Raum hinter dem Publikum, während das FOH (Front of House) im Oberrang platziert ist. Hinter den Kulissen agiert der oder die Inspizient:in. Das ist eine Person mit „Nerven aus Stahl“, die über Funk und Monitore alles mitbekommt und dafür sorgt, dass der gesamte Ablauf reibungslos funktioniert.
Von Farben und dem großen Ganzen
Im fünften Stockwerk befindet sich die Montagehalle, in der auch die kleine Theaterhalle umgebaut wird. Danach gelangt man ins Atelier, wo Farbblenden und Bühnenbilder gemischt werden. Es ist eine große Halle mit verschiedenen, teils riesigen Bühnenbildern. Eine Balustrade, wie ein Balkon, ermöglicht es, die gesamten Zeichnungen von oben zu überblicken, da man aus der Nähe die Größe nicht erfassen kann. Eigene künstlerische Ideen können hier jedoch nicht ohne Weiteres verwirklicht werden, da Entscheidungen über die Bühnenbilder bereits im Vorfeld getroffen werden.
Das Theater bietet auch die Ausbildung zur Bühnenmaler:in mit Blockunterricht in Berufsschulen, beispielsweise in Hamburg, an. Am Tag der offenen Tür, der am 28. September stattfindet, werden Bühnenkunstwerke versteigert und verkauft. Das Theater verfügt zudem über eine eigene Schreinerei und Schlosserei und besitzt viele große Hallen für Requisiten und Bühnenbilder. Am Ende jeder Saison entscheiden die Mitarbeitenden, welche Materialien wiederverwendet werden können und welche nicht mehr.
Außerhalb des Ateliers befindet sich eine weitere große Halle mit einem beeindruckenden, riesigen Aufzug. Dieser öffnet sich, um zwei Männern Platz zu machen, die Bühnenmaterial hinaustragen. Ein Mitarbeiter fragt die Besucher:innen, ob sie mit dem Fahrstuhl fahren möchten, was bei allen große Freude und Aufregung auslöst. Die Fahrt wird als angenehm beschrieben: Es fühlt sich an, als würde man auf der Stelle stehen, während sich nur die Türen nach oben und unten bewegen. Die Tragkraft dieses Metallaufzugs ist beachtlich – 5000 Kilogramm oder 65 Personen. Der Aufzug führt direkt in den Montagesaal, in dem die Lastwagen ihre Lieferungen abladen. Dieser Raum ist besonders wichtig, da hier alle Materialien gesammelt, vor der Vorstellung aufgebaut und ausprobiert werden, um nötige Änderungen noch wenige Tage vor der Aufführung umsetzen zu können.

Die wirtschaftliche Realität
Die nächste Station ist der historische Kostümlagerraum, der die Besucher:innen mit Reihen von Kleidern aus früheren Epochen empfängt. Diese wurden liebevoll entworfen und gefertigt von den Schneider:innen des Theaters. Vor dem Raum spricht die Tourführerin offen über die finanziellen Herausforderungen, mit denen das Theater derzeit zu kämpfen hat, und erklärt, wie es sich aktuell über Wasser hält. Das Staatstheater wird zu 52 Prozent vom Land und zu 48 Prozent vom Staat finanziert. Vor der Corona-Pandemie lag das Budget bei 33,5 Millionen Euro, von denen 15 Prozent selbst erwirtschaftet wurden – heute sind es nur noch 11 Prozent. Die Tourführerin betont, wie wichtig es ist, neben beliebten Klassikern auch experimentelle Inszenierungen auf die Bühne zu bringen. Denn nur so kann die kreative Vielfalt des Theaters erhalten bleiben, ohne den Fokus allein auf wirtschaftliche Aspekte zu richten.
Direkt vor dem Fundusraum befinden sich Aufbewahrungsschränke, in denen die einzelnen Kostüme ordentlich gelagert und mit Nummern sowie dem Namen des jeweiligen Theaterstücks versehen sind, damit die Darstellenden ihre Garderobe schnell finden können. Die Kostüme müssen bereits vor der Generalprobe getragen und anprobiert werden, damit sich die Darstellenden an das oft schwere oder ungewohnte Material gewöhnen können. Früher wurden sogar die Schuhe in der hauseigenen Werkstatt hergestellt – heute ist das nicht mehr der Fall. Insgesamt gibt es fünf Fundusräume.
Die Tour geht weiter in den Maskenraum der Chordamen, einen Raum voller Perücken, Make-up, Spiegel und Schminktischen. Die Perücken bestehen aus echtem Haar. Während Statist:innen ihr Make-up selbst auftragen, werden die Hauptdarsteller:innen vom professionellen Maskenteam geschminkt.
Ein Haus voller Leben
Die Tour endet mit einer Fragerunde der Besucher:innen. Es bleibt der Eindruck: Das Staatstheater Darmstadt ist weit mehr als Bühne und Zuschauerraum. Es ist ein lebendiges System aus Handwerk, Kunst, Logistik, Technik und Leidenschaft. Wer einmal hinter die Kulissen geschaut hat, wird nie wieder einfach „nur“ eine Vorstellung sehen. Das Theater lebt in jedem Raum, jedem Detail und jedem Menschen. Und es wartet auf Menschen, die mehr sehen wollen als nur das Rampenlicht.
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